Lyme-Borreliose: Diagnostisch-therapeutisches Protokoll für die Praxis

G. Stanek
Klin. Institut für Hygiene der Universität Wien, Abt. Infektionsimmunologie, Nationales Referenzzentrum für Borrelia und Chlamydia
(Vorstand: Univ.-Prof. Dr. M. Rotter)


 

Krankheitserreger

Bakterien aus der Familie Spirochäten, B. burgdorferi sensu lato (s. l.), 10 Arten (sog. Genospezies), 3 Borrelien-Arten gelten derzeit als humanpathogen:

B. afzelii
B. burgdorferi
sensu stricto (s.s.)
B. garinii

 

Endemiegebiete

Nördliche Hemisphäre (Nord-, Zentral- und Ost-Europa, asiatische Teile Rußlands, China, Japan)

Geografische Verteilung der Borrelien-Arten:

Europa: B. afzelii, B. burgdorferi s.s., B. garinii
Asien: B. afzelii, B. garinii
USA: B. burgdorferi s.s.

 

Übertragung

Durch Stich (umgangssprachlich fälschlich Zeckenbiß) von Schildzecken der Gattung Ixodes:

I. ricinus
I. persulcatus
I. scapularis
I. pacificus
(Europa)
(europäisches Rußland und Asien)
(USA Ost und Zentralnord)
(USA West)

in den Endemiegebieten sind bis zu 50% der Zecken infiziert.

 

Inkubationszeit

3 bis 40 Tage (Stadium 1)
4 bis 16 Wochen (Stadium 2)

Nur etwa 60% der Patienten erinnern sich an den Zeckenstich.

 

Klinik

~ 20 % inapparent

Stadium 1: Erythema (chronicum) migrans (bei ca. 60% einzige Manifestation), Borrelien-Lymphozytom (seltene Manifestation), unspezifische Allgemeinsymptome (seltene Begleiterscheinung)

Stadium 2 (ca 20%): Neuroborreliose (Radikuloneuritis, Meningoradikulitis, Hirnnervenparesen, Meningitis, Meningoenzephalitis, Radikulomyelitis, Enzephalitis, Enzephalomyelitis), Arthritis (intermittierend), Myositis, Karditis, Ophthalmitis (selten), Hepatitis (sehr selten)

Stadium 3: chronische Arthritis, Acrodermatitis chronica atrophicans, chronische Neuroborreliose (sehr selten; Meningoenzephalitis, Radikulomyelitis, Enzephalitis, Enzephalomyelitis)

 

Kriterien für die Diagnose

Erythema (chronicum) migrans (EM)

Sich vergrößernder, rötlicher oder bläulich-roter Fleck, in der Regel um die Zeckenstichstelle lokalisiert (>- 5 cm Durchmesser), häufig zentral abblassend, Rand deutlich abgesetzt, intensiver gefärbt, aber nicht merklich erhaben, selten an anderen Hautstellen gleichzeitig Erytheme (multiple Erytheme)
Laborbefunde für Diagnose EM nicht obligat !
Kultureller oder Nukleinsäure-Nachweis von B. burgdorferi s.l. aus Hautbiopsien selbstverständlich beweisend.

 

Borrelien-Lymphozytom (LB, seltene Manifestation)

Schmerzlose bläulich-rote Knoten oder Plaques, gewöhnlich an Ohrläppchen, Ohrmuschel, Brustwarze oder Skrotum lokalisiert (häufiger bei Kindern (insbesondere Ohr) als bei Erwachsenen).
Unterstützend: meist gleichzeitig bestehendes oder vorangegangenes EM.
Serologie obligat. Unterstützend und für Differentialdiagnose: Histologischer Nachweis eines B-Zell-Pseudolymphoms. Kultureller oder Nukleinsäure-Nachweis von B. burgdorferi s.l. aus Hautbiopsien beweisend.

 

Acrodermatitis chronica atrophicans (ACA) - FA für Dermatologie beiziehen

Lange bestehende rote oder bläulich-rote Hautveränderung, gewöhnlich an den Streckseiten von Extremitäten. Anfänglich teigige Haut-Schwellungen, die später atrophieren. Über Knochenvorsprüngen Hautinduration möglich.
Serologie obligat: Hohe Konzentration spezifischer IgG-Antikörper im Serum. Histologischer Befund und kultureller oder Nukleinsäure-Nachweis von B. burgdorferi s.l. aus Hautbiopsien beweisend.

 

Erkrankungen des Nervensystems, Neuroborreliose - FA für Neurologie beiziehen

Frühe Neuroborreliose
Schmerzhafte Meningo-Radikuloneuritis mit oder ohne Fazialis-Lähmung oder Lähmung anderer Hirnnerven (Garin-Bujadoux-Bannwarth-Syndrom). Bei Kindern meist seröse Meningitis, isolierte einseitige (manchmal beidseitige) Fazialis-Lähmung oder Lähmung anderer Hirnnerven.
Unterstützender Hinweis: gleichzeitig bestehendes oder vorangegangenes EM.
Antikörpernachweis in Liquor obligat: Lymphozytäre Pleozytose im Liquor und Nachweis intrathekal gebildeter spezifischer Antikörper (Serum und Liquor einsenden) oder kultureller oder Nukleinsäure-Nachweis von B. burgdorferi s.l. aus Liquor sind beweisend.
! Kurz nach Beginn der Symptome kann intrathekale Antikörperbildung u. U. noch nicht nachweisbar sein; bei sehr kurzer Krankheitsdauer - einige Tage - oder bei Kindern mit isolierter Fazialisparese kann Liquorpleozytose fehlen. !

Chronische Neuroborreliose (sehr selten)

Lange bestehende Enzephalitis, Enzephalomyelitis, Meningoenzephalitis, Radikulomyelitis.
Antikörpernachweis in Liquor und Serum obligat: Nachweis intrathekal gebildeter spezifischerAntikörper und Lymphozytare Pleozytose im Liquor und Nachweis von Antikörpern gegen B. burgdorferi s.l. im Serum.

 

Lyme-Karditis - FA für Kardiologie/Rhythmologie beiziehen

Unerwarteter, akut einsetzender AV-Block II.-III. Grades, Rhythmusstörungen, manchmal Myokarditis oder Pankarditis. Unterstützender Hinweis: Bestehendes oder vorangegangenes EM.
Serologie obligat: Nachweis von IgG- und IgM-Antikörpern gegen B. burgdorferi s.l. im Serum oder Nachweis eines signifikanten Anstiegs von IgG-Antikörpern gegen B. burgdorferi s.l. Kultureller oder Nukleinsäure-Nachweis von B. burgdorferi s.l. aus Myokardbiopsien selbstverständlich beweisend, jedoch praktisch - mit Ausnahme von Einzelfällen - nicht durchführbar.

 

Lyme-Arthritis - FA für Rheumatologie beiziehen

Wiederkehrende kurze Attacken objektiver Gelenksschwellung in einem oder wenigen großen Gelenken (Knie), gelegentlich zu chronischer Arthritis führend und Vorgeschichte einer anderen Manifestation der Lyme-Borreliose während des vorausgegangenen Jahres und Ausschluß anderer Ursachen.
Serologie obligat: Hohe Konzentration spezifischer IgG-Antikörper im Serum.
Nukleinsäure-Nachweis von B. burgdorferi s.l. aus Synovialflüssigkeit und/oder Synovia beweisend (Kultur wird nicht empfohlen, da Anzüchtungserfolge weltweit unter 1 %).

 


Behandlung

Angabe der Tagesdosis (Dosierung für Kinder)

 

Erythema migrans & Borrelien Lymphozytom

Antibiotika oral für 14 Tage (10 - 30 Tage) außer Azithromycin.
Kontraindikation für alle Substanzen ist Überempfindlichkeit.
Doxycyclin nicht für Kinder, Schwangere und Stillende.

 

Phenoxymethylpenicillin (Penicillin V) 3 x 1- 1,5 MIE (0,1-0,15 MIE/kg)
oder
Azithromycin 2 x 500 mg (20 mg/kg) 1. Tag
1 x 500 mg (10 mg/kg) nächste 4 Tage
oder
Doxycyclin 2 x 100 mg
NICHT für Kinder, Schwangere, Stillende
oder
Amoxicillin 3 x 500 -1000 mg (20 - 50 mg/kg)
oder
Cefuroxim 2 x 500 mg (30 - 40 mg/kg)
 

Neuroborreliose

Antibiotika intravenös für 14 Tage (10 - 30 Tage).
Kontraindikation für alle Substanzen ist Überempfindlichkeit.
Doxycyclin nicht für Kinder, Schwangere und Stillende.

 

Ceftriaxon 2 g (50 -100 mg/kg)
oder
Penicillin G 20 MIE (0,25 - 0,5 MIE/kg)

 

In den Ausnahmefällen gesicherter Penicillinallergie oder isolierter Fazialisparese und
negativem Liquorbefund (keine Pleozytose, keine intrathekalen Antikörper)
orale Verabreichung über 28 Tage (14 - 30) von

 

Doxycyclin 2 x 200 mg
NICHT für Kinder, Schwangere, Stillende
oder
Amoxicillin 3 x 0,5 - 1 g (20 - 50 mg/kg)

 

Arthritis (intermittierend oder chronisch)

Antibiotika oral für 3 Wochen (10 - 30 Tage).
Kontraindikation für alle Substanzen ist Überempfindlichkeit.
Doxycyclin nicht für Kinder, Schwangere und Stillende.

 

Doxycyclin 2 x 100 - 200 mg/Tag
NICHT für Kinder, Schwangere, Stillende
oder
Amoxicillin 3 x 0,5 - 1 g/Tag (20 - 50 mg/kg)
 

Kardioborreliose

selbes Behandlungsschema wie für Arthritis

Acrodermatitis chronica atrophicans

Antibiotika intravenös für 3 Wochen (10 - 30 Tage).
Kontraindikation für alle Substanzen ist Überempfindlichkeit.
Doxycyclin nicht für Kinder, Schwangere und Stillende.

 

Ceftriaxon 2 g (50 -100 mg/kg)
oder
Penicillin G 20 MIE (0,25-0,5 MIE/kg)
oder
Doxycyclin oral 2 x 200 mg
NICHT für Kinder, Schwangere, Stillende

 

 

Laboratoriums-Diagnostik

Serologie

"Zwei-Test-Verfahren" ist Standard
Zahlreiche kommerziell erhältliche Produkte stehen zur Verfügung. Damit erzielte Ergebnisse müssen nicht notwendigerweise übereinstimmen, weder quantitativ noch qualitativ!
Das heißt, Ergebnisse aus verschiedenen Laboratorien dürfen nicht miteinander verglichen werden.
Regel: Korrekt kann eine Änderung der Antikörperkonzentration in Körperflüssigkeiten (Blut-, Liquorproben) nur erfaßt werden, wenn die zu verschiedenen Zeitpunkten gewonnenen Proben mit demselben Testsystem gleichzeitig untersucht werden (selbe Methode und Fehlerbreite unter denselben Bedingungen).

Erster Test
ELISA IgG und IgM, mit Ganzzell- oder rekombinanten Antigenen
oder
Immunfluoreszenz-Test mit Ganzzellantigen(en)
oder
Hämagglutinations-Test mit Ganzzellantigen(en)

Zweiter Test
Immunoblot (Westernblot) IgG und IgM mit Ganzzell- oder rekombinanten Antigenen.
Dieser Test zeigt, mit welchen Antigenen von elektrophoretisch aufgetrennten Borrelienproteinen die im Serum (Plasma) oder Liquor enthaltenen Antikörper reagieren. Aufgrund des Reaktionsmusters läßt sich entscheiden, ob der erste Test ein unspezifisch positives Ergebnis angezeigt hat.
Kultur = Anzüchten von Borrelien
Anzüchten von Borrelien aus Hautbiopsie, Liquor cerebrospinalis, Blut, Muskel- und Herzmuskelbiopsie, Gelenkspunktat und Synovia-Biopsien.
Material vor Beginn der Antibiotikabehandlung gewinnen!
Obwohl Kulturmedium (BSK II) kommerziell erhältlich, ist es empfehlenswert, Anzüchtung und Identifizierung von Borrelien erfahrenen Referenz-Laboratorien zu überlassen.

Nukleinsäure-Amplifikationstechniken (NAT)
Borrelien-Nukleinsäure kann auch nach Beginn der Behandlung mit Antibiotika aus Untersuchungsmaterial nachgewiesen werden. Empfohlen wird die Untersuchung von Hautbiopsie, Gelenkspunktat und Synovia-Biopsien. NATs mit Liquor und Blut sind nur bei bestimmten Fragestellungen angezeigt; das gleiche gilt für Muskel- und Herzbiopsien. Die Durchführung und Interpretation von Borrelien NATs soll erfahrenen Referenz-Laboratorien vorbehalten bleiben.

 

 

Interpretation serologischer Ergebnisse

Grundsatze für die Interpretation der Borrelien-Serologie (Serum-Antikörper)

!! Nie ohne Kenntnis des Patienten und seiner Erkrankung !!

!! Positive Borrelien-Serologie allein ist keine Indikation für antibiotische Behandlung !!

 

Im Unterschied zur Virologie können serologische Ergebnisse der Bakteriologie nicht unmittelbar als Indikatoren gesicherter Infektion bezeichnet werden.

 

Antikörper im Serum

 

IgM und IgG positiv: Ohne Klinik keine Indikation für eine Behandlung > Kontrolltest in 1- 2 Monaten.

 

IgM und IgG negativ: Häufiges Ergebnis bei Patienten mit Erythema migrans;
Behandlung notwendig, auch wenn keine humorale Immunreaktion auf die klinisch eindeutige Infektion angezeigt wird.
Spätere Serumuntersuchungen können ebenfalls negativ ausfallen oder positiv werden. Letzteres Ergebnis zeigt jedoch keinen Therapieversager an (Klinik !).

 

IgM positiv, IgG negativ: Ohne Klinik keine Behandlung; Kontrolle in 1 -2 Monaten; gleichbleibendes Ergebnis zeigt Problem der IgM-Sensitivität des verwendeten Testsystems auf >  Referenzlaboratorium.

 

IgM negativ, IgG positiv: Ohne Klinik Anzeige einer früher durchgemachten lnfektion, eventuell Teil-Immunität. Kontrolle in 2-4 Monaten.

 

 


Prophylaxe

   Immunprophylaxe

 

Rekombinanter OspA Impfstoff (LYMErix™ SKB):
NUR für USA, da nur B. burgdorferi s.s. OspA-Serovar 1, weitere 7 europäische Serovare nicht enthalten.

 

Rekombinanter polyvalenter OspC-Impfstoff (BAXTER Hyland Immuno):
Für Europa und Eurasien entwickelt; derzeit in der klinischen Prüfung.

 

   Chemoprophylaxe nach Zeckenstich

 

Wird NICHT empfohlen

 

 

Anschrift des Verfassers:
Univ.-Prof. Dr. G. Stanek
Klin. Institut für Hygiene der Universität Wien, Abt. Infektionsimmunologie,
Nationales Referenzzentrum für Borrelia und Chlamydia
A-1095 Wien, Kinderspitalgasse 1

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